Manfred Spitzer polarisiert: „Jeder Tag ohne digitale Technik ist ein guter Tag für die geistig-seelische und die körperliche Entwicklung unserer Kinder.“

Neurowissenschaftler Manfred Spitzer war Gastredner auf der bezirklichen Tagung für Pädagogen und Gesundheitsförderer, die die Abteilung Jugend und Gesundheit des Bezirksamtes jüngst organisiert hat. Barbara Breuer sprach mit dem Forscher über die Gefahren digitaler Technik für Kinder und Heranwachsende – und über sinnvolle Weihnachtsgeschenke.

Herr Professor Spitzer, Weihnachten steht vor der Tür und viele Eltern vor der Frage, wann der richtige Zeitpunkt ist, um dem Nachwuchs ein Tablet oder ein Smartphone zu schenken?
Manfred Spitzer: Weihnachten ist man auf der sicheren Seite, wenn man etwas schenkt, das ohne Strom auskommt. Bei allem, was Strom braucht, wäre ich vorsichtig. Von Tablets und Smartphones profitiert niemand: Den Jungen und Mädchen schenkt man damit eine geringere Bildung und mehr Unzufriedenheit mit ihrem Leben. Das ist nachgewiesen. Die reichsten Firmen der Welt produzieren diese Dinger und verdienen daran Milliarden. Um die Zukunft unserer nächsten Generation geht es ihnen dabei nicht.
Viele Eltern wollen den Kindern mit Tablets den Einstieg in die digitale Gesellschaft ermöglichen.
Spitzer: Und stattdessen schenken sie dem Kind und sich selbst Probleme. Wenn die Geräte erst einmal da sind, wird aus dem ganz normalen Leben ein beständiger Kampf gegen diese Medien: „Leg doch mal das Ding weg!“, hören sich verantwortungsbewusste Eltern dann sehr oft sagen. Es wird darum gekämpft, dass es ein Abendessen ohne Tablets und Smartphones gibt, dass man sich unterhalten kann, ohne dass das Ding klingelt und ablenkt.
Und wie steht es um die Computer? Sie gehören ja inzwischen auch zum Schulalltag und lassen sich nicht so einfach verbannen…
Spitzer: Trotzdem dürfen wir nicht vergessen: Der Computergebrauch hat Nebenwirkungen. Bis zu einem Alter von etwa zwei Jahren können Kinder vom Computer gar nichts lernen. Im Vorschul- und Grundschulalter schadet hoher Medienkonsum der Bildung, später kann er zu Computersucht führen. Das sollte man bedenken!
Sie haben mal gesagt, dass wir Westeuropäer in 30 Jahren T-Shirts für die Asiaten nähen. Passiert das nicht gerade dadurch, dass wir Tablets und Computer aus den Klassenzimmern verbannen und unsere Kinder so den Anschluss an die digitale Welt verpassen?
Spitzer: Nein, das ist einfach nur die absehbare Folge unbestreitbarer Fakten. Der wirtschaftliche Erfolg eines Landes hängt letztlich vom Bildungsniveau ab, und das Bildungsniveau steht in direktem Zusammenhang mit dem Medienkonsum. Der massiv gestiegene Medienkonsum unserer Kinder bedroht – nach allem, was wir wissen – unsere wirtschaftliche Zukunft.
Südkorea ist Exportweltmeister für Smartphones und das weltweit digital am weitesten entwickelte Land. Dort sind jetzt schon 31 Prozent der 10- bis 19-Jährigen smartphonesüchtig. Deshalb gibt es mittlerweile Gesetze zum Schutz junger Menschen vor den Auswirkungen der Smartphones …
Spitzer: Ja, wer unter 19 ist muss auf seinem Smartphone Software installiert haben, die den Zugang zu extremer Gewalt und zu Pornografie sperrt und den Eltern mit teilt, wie lange das Gerät täglich genutzt wird. Wenn der Jugendliche eine gewisse Nutzungszeit überschreitet, werden die Eltern schriftlich benachrichtigt und aufgefordert, sich besser um ihren Nachwuchs zu kümmern. Und wenn die Jugendlichen um Mitternacht heimlich Spiele spielen wollen, dann geht das nicht, weil die Spieleserver um Mitternacht für Unter-19-Jährige abgeschaltet werden. Die Südkoreaner haben das Problem erkannt und schützen die nachkommenden Generationen per Gesetz.
Sie sind Neurowissenschaftler. Welche Risiken birgt denn der frühkindliche Medienkonsum ganz konkret?
Spitzer: Wenn die Kinder bis zu zwei Jahre alt sind, nimmt man ihnen die Chance, Erfahrungen zu machen, die sie brauchen, damit sich ihre Gehirne optimal entwickeln. Sie müssen die Welt nicht nur hören und sehen, sondern sie auch in die Hand nehmen, sie ertasten, riechen und schmecken. Je mehr ein Kind beispielsweise Fingerspiele macht, umso besser ist es später in Mathematik. Denn die Zahlen kommen über die Finger ins Gehirn. Und je besser ich mit meinen Fingern umgehen kann, desto besser kann ich später auch mit Zahlen umgehen. Wenn ich aber mit der Hand ohne jedes Feedback nur über eine Oberfläche wische, dann trainiere ich Sensorik und Motorik überhaupt nicht.
Können Sie bitte kurz erklären, wie unser Gehirn arbeitet?
Spitzer: Gehirne machen keinen Download und werden stattdessen leistungsfähiger durchs Benutzen – so wie Muskeln. Unser Gehirn ändert sich, wenn wir empfinden, wahrnehmen, denken, fühlen, wollen. Dabei ändern sich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Und diese Nervenzellen spielen sich bei der Informationsverarbeitung, die sie leisten, Impulse zu. Die dadurch entstehenden Verbindungen zwischen ihnen sind der Speicher. Wir haben im Kopf also weder einen Chip, der nur verarbeitet, noch eine Einheit, die nur speichert. So ist das im Computer. Im Gehirn hingegen werden Verarbeitung und Speicherung von den gleichen Nervenzellen erledigt.

Ihr Rat an die Eltern?

Spitzer: Die Risiken und Nebenwirkungen ernst nehmen. Jeder Tag ohne digitale Technik ist ein guter Tag für die geistig-seelische und die körperliche Entwicklung unserer Kinder. Und Weihnachtsgeschenke bitte nur ohne Stecker.

red., Bild: BA