Der ehemalige Bürgerrechtler Edgar Dusdal (57) ist Vater von fünf Kindern und Pfarrer in der Lichtenberger Paul-Gerhardt- Gemeinde. Bis zu einhundert Gläubige lauschen sonntags seiner Predigt. Barbara Breuer hat mit ihm über den bevorstehenden Kirchentag, das Reformationsjahr und die Frage gesprochen, wie geflüchtete Menschen integriert werden können.

Herr Dusdal, vom 24. bis zum28. Mai ist der 36. Deutsche Evangelische Kirchentag in Berlin und Wittenberg. Er steht unter der biblischen Losung „Du siehst mich“. Mehr als 100.000 Teilnehmende kommen dabei zu über 2.000 Einzelveranstaltungen zusammen – von gesellschaftspolitischen Podiumsdiskussionen über geistliche Veranstaltungen bis hin zu einem breiten Kulturprogramm. Wo mischt die Lichtenberger Paul-Gerhardt- Gemeinde mit?

Edgar Dusdal: Der erste Abend des Kirchentages ist nach dem Eröffnungsgottesdienst um 18 Uhr traditionell der „Abend der Begegnung“. Zwischen Brandenburger Tor und der Staatsoper gibt es ein buntes Programm auf diversen Bühnen und neben Essen und Trinken viele Mitmachangebote. Unsere Gemeinde bietet dort zusammen mit der Berliner SozDia Stiftung Smoothies an. Wer mag, kann außerdem aus alten Dingen Neues gestalten. Mit diesen Aktionen möchten wir uns auf ein nachhaltiges Leben besinnen, Ressourcen- und Klimaschutz in den Fokus rücken. Wochentags sind Menschen an allen Kirchentagsabenden ab 21 Uhr in die Friedrichsfelder Kirche zum Literarischen-Gute-Nacht-Cafe mit Tee, Kaffee, Musik, Text und Gesprächen eingeladen.

Auch Kinder sind beim Kirchentag willkommen.

Dusdal: Ja, in der Stadtmission am Lehrter Bahnhof ist das kostenlose „Zentrum Kinder“ für alle bis zwölf Jahren. Dort werden zahlreiche Spiel- und Kreativangebote, sowie Erzählungen und Mitmachkonzerte für die rund 10.000 jungen Gäste angeboten. Aus vielen Bewerbern wurde unser 40-köpfiger Chor ausgewählt, um dort das Familien-Musical „Kain und Abel“ aus der Feder von Kinderchorleiterin Claudia Gundlach aufzuführen. Aber auch das Gospelkollektiv unserer Gemeinde wird Konzerte, Workshops und offenes Singen gestalten.

Mit Plakataktionen hat die Kirche nach 15.000 Übernachtungsmöglichkeiten für auswärtige Kirchentagsbesucher gesucht. Außerdem werden rund 60.000 Gäste in Gemeinschaftsquartieren in Schulen untergebracht…

Dusdal: Ja, auch unsere Gemeinde betreut während des Kirchentages sieben Schulen. Mehr als 100 Freiwillige haben sich gemeldet, um dort beispielsweise das Frühstück zu verteilen oder nachts einen Bereitschaftsdienst anzubieten. Bei uns in der Gemeinde erlebe ich eine sehr positive Resonanz auf den Kirchentag.

Der Evangelische Kirchentag war in den vergangenen Jahren auch immer stärker ökumenisch geprägt. Knapp zehn Prozent der Dauerteilnehmer sind Katholiken. Gibt es in den Köpfen überhaupt noch eine Trennung zwischen evangelisch und katholisch?

Dusdal (lacht): Sie stellen Fragen! Es ist mir schon passiert, dass mir Menschen erzählt haben, sie wollten aus der Kirche austreten, weil sie nicht damit übereinstimmen, was der Papst sagt. Leider sind sie da bei mir als evangelischem Pfarrer an der falschen Adresse. Wer noch in der Kirche ist, aber zu der Institution ein distanziertes Verhältnis hat, der unterscheidet meist nicht mehr zwischen evangelisch und katholisch. Für viele Menschen ist heute auch nicht mehr plausibel, warum es überhaupt eine evangelische und eine katholische Kirche gibt. Je intensiver allerdings jemand mit seiner Gemeinde verbunden ist, desto deutlicher ist für ihn oder sie, warum er oder sie katholisch oder evangelisch ist.

Haben Sie in ihrer Gemeinde ökumenische Angebote?

Dusdal: Ja, wir veranstalten jedes Jahr den Kirchentags-Klassiker „Feierabendmahl“ in der Erlöserkirche. Am Freitag, 20. Mai, gestalten die Pfarrerinnen Sapna Joshi und Kerstin Menzel gemeinsam mit der Kantorei Karlshorst unter der Leitung von Cornelia Ewald einen besonderen Gottesdienst. Dort können Kirchentagsbesucher Gemeindemitglieder kennen lernen.

Neben dem Kirchentag zelebrieren wir in diesem Jahr auch 500 Jahre Reformation. Warum ist das für Sie ein Grund zu feiern?

Dusdal: Ich verbinde mit der Reformation und mit Luther, dass sie ganz stark zur Gewissensbildung beige- tragen und für eine Authentizität des Glaubens stehen. Der Glaube hat zugleich neben seiner spirituellen Seite immer auch eine gesellschaftliche und politische Dimension. Er beinhaltet immer auch eine Möglichkeit der Weltgestaltung. Das könnte aktuell beispielsweise bedeuten, der Autoritätsgläubigkeit im Zeitalter des Populismus eine Absage zu erteilen und den eigenen gewachsenen moralischen Überzeugungen zu vertrauen statt sich aktuellen Stimmungsschwankungen bzw. Weltängsten hinzugeben. Da könnte der Protestantismus auch etwas wie eine Immunisierung leisten. Eine Immunisierung gegenüber platten Wahrheiten, Emotionalisierungen oder Dramatisierungen, statt apokalyptischer Panikmache konstruktive Weltbejahung.

Dramatisch war die Lage im Sommer 2015 als plötzlich viele Geflüchtete in Deutschland und in Lichtenberg Schutz gesucht haben. Damals wurden 1.200 Menschen in Karlshorst untergebracht. Ihre Gemeinde hat zudem sieben Gefüchteten vom Oranienplatz Kirchenasyl gewährt. Aber damit ist das Flüchtlingsproblem nicht gelöst. Jeden Tag versuchen hunderte verzweifelte Menschen erneut nach Europa zu gelangen…

Dusdal: Nein, das Problem ist in der Tat nicht einfach zu lösen. Damit Sozialsysteme und andere Institutionen, die wir haben, nicht zusammen brechen, bedarf es natürlich bestimmter Grenzen. Und wo die liegen, das muss ausgehandelt werden. Das betrifft auch die eigene Bereitschaft, Zumutungen auszuhalten. Da sehe ich auch eine zentrale Aufgabe von Kirche. Ich glaube, dass die Flüchtlinge, die bisher zu uns gekommen sind, erst die Vorboten sind. Es ist nicht abzusehen, dass sich die Situation in Afrika stabilisert. Dazu trägt der Klimawandel noch verstärkend bei. Seriöse Wissenschaftler gehen von zweihundert Millionen Flüchtlingen bis 2030 aus, die ihre Heimat alleine wegen des Klimawandels verlassen. Das heißt, es kommen auf uns umfangreiche Wandlungsprozesse zu, auf die wir vorbereitet sein müssen.

Wie könnte die Kirche die Menschen mental auf diese gesellschaftlichen Umwälzungen vorbereiten?

Dusdal: Sie könnte den Menschen verdeutlichen, dass alles, was wir haben, ja nicht unser Verdienst ist, sondern auf Gnade beruht. Dass ich in Deutschland geboren worden bin, ich eine Arbeit habe und es hier bestimmte Lebensverhältnisse gibt, ist nicht mein Verdienst. Und ich muss mich immer in die Position versetzen können, ich hätte auch woanders geboren werden können, und andere Lebensumstände aushalten müssen. Und wenn ich in der Lage bin, mir das zu verdeutlichen, dann müsste ich auch die Dinge, die ich anvertraut bekommen habe, als relativ ansehen. Besitz ist relativ, es gilt ihn zu teilen!

Kritiker sagen, wir müssten die Anreize reduzieren, damit Menschen gar nicht erst auf die Idee kommen, sich in ihrer Not an uns zu wenden… 

Dusdal: Die Menschen hier müssen akzeptieren, dass sich Flüchtlinge auf den Weg machen und das ganz unabhängig davon, ob wir hier Anreize dafür schaffen oder nicht. Allein die Tatsache, dass wir hier bessere Lebensverhältnisse haben als sie in ihrer Heimat, ist für viele Menschen schon Anreiz genug. Wenn ich das eigene Humanum nicht in Frage stellen will, muss ich auch institutionell die Rahmenbedingungen schaffen, um diese Menschen langfristig zu integrieren. Wir hatten ja jetzt diese Situation, dass die meisten Institutionen und die Politik sich überrannt fühlten. Und selbst da konnte man sehen, dass wir gemeinsam enormes leisten konnten. Aber das muss natürlich dauerhaft sicher gestellt werden. Das war jetzt die Gelegenheit, das Problembewusstsein dafür zu schärfen, was Integration überhaupt heißt. Und das ist mehr als nur das Bereitstellen erster Hilfe.

Was bedeutet denn für Sie Integration?

Dusdal: Vielleicht müsste man sich den Begriff noch mal genauer anschauen oder den Gesellschaftsbegriff noch mal neu definieren. Wenn ich mir die deutsche Gesellschaft im 19. Jahrhundert anschaue, dann war die sehr stark millieugeprägt. Entweder jemand gehörte dem katholischen Millieu an oder dem Arbeitermilieu oder dem protestantischen Millieu. Und es gab oft keinen Zugang vom einen in das andere Millieu. Wir hatten damals also schon eine fragmentierte Gesellschaft. Auch da hat auf dem Schulhof der Katholik den evangelischen Schüler verprügelt, weil er den Anderen in seiner Religion nicht anerkannte. Das zeigt, dass es solche Auseinandersetzungen immer in der Gesellschaft gegeben hat – auch bei uns. Nun schleifen sich auf der einen Seite Identitäten ab, dafür entstehen wieder andere. Wir stehen vor der Herausforderung, fragmentierte Gruppen von Menschen, die nebeneinander existieren und nur punktuell miteinander zu tun haben, auf allgemeingültige Werte zu verpflichten. Dazu zählen Verfassungsgrundsätze und das Einhalten von Menschenrechten, die universal gelten. Integration hieße dann natürlich auch, integrieren in bestimmte Vorgaben, die die Aufnahmegesellschaft als unaufgebbar für sich ansieht. Darüber hinaus ist das Neben- und Miteinander alternativlos.

BÜRGERRECHTLER UND GOTTESMANN

1960 in Großräschen in der Lausitz geboren, war Edgar Dusdal schon als Jugendlicher unbequem: Er musste die Schule nach der zehnten Klasse verlassen und wurde zunächst Elektriker. Daneben engagierte er sich in der Kirche und setzte sich gegen die Einführung des Wehrkundeunterrichts ein. Anfang der 1980er Jahre studierte er in Leipzig Theologie und lernte dort Gleichgesinnte kennen. Zusammen mit anderen Bürgerrechtlern wollte er ab 1984 die DDR demokratisieren. Fünf Jahre später wurde Edgar Dusdal zu einem von sieben Sprechern des Leipziger Neuen Forums.

Nach 1989 blieb Edgar Dusdal in seinem Beruf als Theologe. Heute ist er Vater von fünf Kindern und Pfarrer der Paul-Gerhardt-Gemeinde in Karlshorst. Das Gemeindeleben ist rege, Edgar Dusdal tauft 50 bis 60 Kinder pro Jahr.

Das hängt auch damit zusammen, dass Karlshorst ein familienfreundliches Umfeld bietet und immer mehr Familien mit Kirchenbindung dorthin ziehen. Und so kommen in Dusdals Gemeinde Menschen aus ganz unterschiedlichen Kontexten zusammen.