Kinderarzt Dr. Steffen Lüder aus Hohenschönhausen im Gespräch.

Der Kinder- und Jugendmediziner Dr. Steffen Lüder hat vor mehr als neun Jahren seine Praxis am Prerower Platz in Neu-Hohenschönhausen übernommen. Während er anfangs pro Quartal etwa 900 Kinder und Jugendliche betreute, sind es inzwischen bis zu 1.600 Patienten. In den Rathausnachrichten erzählt er Barbara Breuer von praktizierenden Medizinern im Rentenalter, einer Ärztequote aus den 1990er Jahren und unnötiger Bürokratie im Gesundheitswesen.

Herr Dr. Lüder, wie viele andere Kinderarztpraxen platzt auch ihre aus allen Nähten. Wie sieht ihr Berufsalltag aus?

Dr. Steffen Lüder: Mich hat gerade eine werdende Mutter angerufen, die im November entbindet. Sie wollte wissen, ob wir noch neue Patienten aufnehmen. Die Frau hat noch nicht einmal einen dicken Bauch und sucht schon nach einem Arzt für ihr Kind! Ich glaube, das sagt schon viel aus.

Früher hat der Berliner Senat sehr kleinräumig statistisch berechnet, ob in jedem Kiez genug Mediziner sind. Seit 2003 ist ganz Berlin – auch auf Wunsch der Ärzte – nur noch eine Planungsregion. Es gibt seither nur noch Durchschnittszahlen verschiedener Facharztrichtungen für die ganze Stadt. Das spiegelt aber nicht die Schieflagen in den einzelnen Bezirken wider…

Dr. Lüder: Ja, politisch ist das blöd, aber die Ärzte haben sich genau dafür entschieden. Denn wer eine Praxis an einem vermeintlich unattraktiven Standort hat oder einfach nur mehr private oder sozial höher gestellte Patienten haben will, der zieht beispielsweise gerne nach Pankow und nicht nach Neukölln um. Dadurch, dass Berlin eine Planungsregion ist, haben die Ärzte wieder mehr Wahlfreiheit. Im Umkehrschluss heißt das aber, dass theoretisch alle Berliner Gynäkologen in der Schloßstraße sitzen dürften …

Das Bezirksamt Lichtenberg hat gemeinsam mit dem Bezirksamt Neukölln sowie dem Sana Klinikum und dem Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge eine Studie durchgeführt, um die ärztliche Versorgung im Bezirk zu untersuchen. Herausgekommen ist beispielsweise, dass Lichtenberg laut Kassenärztlicher Vereinigung bei den Kinderärzten zu 128 Prozent versorgt ist. Wer aber einen Termin bei bestimmten Fachärzten bekommen will, muss monatelang warten. Wieso klaffen Statistik und tatsächliche Versorgung so weit auseinander?

Dr. Lüder: Der Berechnungswert von 128 Prozent für Kinderärzte ist mathematisch korrekt, in der Realität aber völliger Blödsinn. Denn auf der Versorgerseite werden nur die einzelnen Ärzte gezählt. Da wird die junge dynamische Kollegin, die 1400 Patienten im Quartal behandelt genauso als eine Person gezählt wie der Arzt über 70 Jahren mit der halben Anzahl von Patienten in demselben Zeitraum.

Es geht also nicht um Leistung?

Dr. Lüder: Korrekt. Wir zählen nur die Köpfe und nicht die Arbeitsleistung, die dahinter steht. Das ist fatal. Wenn man beispielsweise drei Kollegen hat, die einfach gründlicher arbeiten und damit langsamer, die vielleicht viel mehr beraten, dann braucht man wieder mehr Ärzte, um das auszugleichen. Außerdem listet die Kassenärztliche Vereinigung Berlin auf ihrer Internet-Homepage in Berlin-Lichtenberg unter der Rubrik „Kinderarzt” 13 Kolleginnen und Kollegen von mir auf.

Und gleich die erste Ärztin, die dort genannt wird, ist eine Angestellte des Sana Klinikums. Sie ist spezialisiert auf nierenkranke Kinder und eindeutig keine niedergelassene Ärztin der Grundversorgung. Das erklärt diese Internetseite aber nicht. Eigentlich dürfte sie da gar nicht drinstehen – tut sie aber. Die nächste Kollegin, die dort aufgeführt wird, ist 66 und die andere 65. Dann haben wir noch eine Ärztin mit 60. Bis Oktober 2016 war ich mit 50 Jahren der zweitjüngste Kinderarzt in Lichtenberg-Hohenschönhausen. Neun Kolleginnen sind weit über 60 Jahre alt, unsere „Alterspräsidentin” noch mit 72 Lebensjahren in der Praxis.

Der Bezirk kann sich vorstellen, langfristig Betreiber eines Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) – ähnlich einer Poliklinik – zu werden, um die Krankenversorgung der Lichtenbergerinnen und Lichtenberger zu gewährleisten. Was halten Sie davon?

Dr. Lüder: Ich finde die Idee gut, aber mir fehlt leider der Glaube daran, dass es funktioniert. Verglichen mit einem niedergelassenen Arzt schaffen angestellte Ärzte in Berlin nur einen Teil der abgerechneten Leistungen. Das heißt, wenn ich ersetzt werde durch einen angestellten Arzt, dann würde die Leistung sinken. Auf der anderen Seite habe ich Ärztemotivationsworkshops organsiert und festgestellt, dass die meisten jungen Kolleginnen lieber im Team, und das heißt meistens im Krankenhaus, arbeiten wollen. Dort können sie sich austauschen und haben kein finanzielles Risiko wie bei einer Niederlassung.

Können Sie das noch genauer beschreiben?

Dr. Lüder: Als Selbstständiger impfe ich beispielsweise Ihr Kind sofort, wenn Sie hier vorbei kommen. Als angestellter Arzt würde ich eher einen Termin vergeben und Sie später wieder kommen lassen. Angestellte arbeiten wie Angestellte und Freiberufler eben wie Freiberufler. Das ist ein Unterschied.

Ärztemangel herrscht bundesweit. Was hat die Politik da verschlafen?

Dr. Lüder: Ehrlich gesagt, ist medizinische Versorgung genauso schwer zu steuern wie heißes Sonnenwetter an der Ostsee. Wünsche und Realität klaffen da oft auseinander. Niemand hätte je geglaubt, dass Ärzte auch in Teilzeit arbeiten. Aber die jungen Leute heute achten sehr auf die Balance zwischen Arbeitsleben und Freizeit. Jeder dachte, Mediziner arbeiten immer rund um die Uhr. Aber die Generation, in der es bei den Kinderärzten noch einen leichten Männerüberschuss gibt, die geht jetzt langsam in Rente.

Außerdem wurden im letzten Jahr 79 Prozent der Facharztprüfungen in der Kinder- und Jugendmedizin von Frauen gemacht. Auf vier Ärztinnen kommt also ein Arzt. Und wo mehr Frauen im System sind, da wird zu Recht mehr Teilzeit gearbeitet. Und auch insgesamt wächst die Anzahl der in Teilzeit arbeitenden Ärzte ständig an. Dadurch werden also noch mehr Mediziner gebraucht.

Kann die Politik Anreize schaffen, damit mehr Leute Medizin studieren?

Dr. Lüder: Selbst wenn die Politik sofort ganz viel Geld in die Hand nehmen und die Studienplätze zum September um 25 Prozent erhöhen würde, dann wären die positiven Auswirkungen erst in dreizehn oder vierzehn Jahren spürbar. Früher wird das nichts, wenn man die Ausbildungszeiten berechnet: Sechs Jahre Studium, sechs Jahre Facharztausbildung und zwischendurch noch ein Jahr für die Doktorarbeit …

Warum gibt es denn aus Ihrer Sicht kein Interesse an einer Verbesserung der tatsächlichen Versorgungslage in den Bezirken mit einer vergleichsweise geringeren Arztdichte?

Dr. Lüder: Der Gesetzgeber hat für viele Jahre im Voraus Verhältniszahlen erlassen, wo festgelegt wurde, wieviel Ärzte einer Fachgruppe auf wie viele Einwohner kommen. Danach ist Berlin statistisch überversorgt. Die Zahlen aus der Bedarfsberechnung sind gesetzlich vorgegeben. Das ist pure Mathematik. Problematisch ist, dass die Bedarfsplanung irgendwann in den 1990er Jahren gemacht und seither nicht mehr korrigiert worden ist. Damals gab es weder die Vorsorgeuntersuchung U7a, noch die U10 und auch keine U11 sowie keine Jugenduntersuchung. Damals gab es noch keine Pneumokokkenimpfung und auch noch keine Impfung gegen eitrige Gehirnhautentzündung. Mädchen wurden nicht gegen Gebärmutterhalskrebs geimpft. Das alles sind neue und gute Sachen, die heute empfohlen und auch von den Krankenkassen bezahlt werden. Außerdem gibt es eine Menge ärztlicher Atteste und Bescheinigungen, die inzwischen von vielen Kitas und Schulen gefordert werden, die unnötig sind und uns kostbare Behandlungszeit stehlen. Die Kita mit Sauna will eine Sauna-Tauglichkeitsbescheinigung. Wer im Verein Cheerleader werden möchte, braucht dafür eine Untersuchung. Das alles kommt hier an. Da ist so viel sinnfreie Bürokratie drin.

Gibt es aus Ihrer Sicht weitere Lösungsansätze, die zu einer schnellen Verbesserung der ärztlichen Versorgung für die Lichtenbergerinnen und Lichtenberger beitragen könnten?

Dr. Lüder: Ja, die sofortige Abschaffung der Fallzahlbudgets. Gerade habe ich den aktuellen Quartalsbericht von der Kassenärztlichen Vereinigung erhalten. Dahinter steht das so genannte ,Regelleistungsvolumen’. Daraus erklärt sich, wie viele Patienten ich voll bezahlt bekomme und wie viel Geld ich damit verdienen darf. Das sind bei mir im dritten Quartal 2017 insgesamt 1317 Kinder und Jugendliche – mehr nicht. Danach heißt es für mich, je mehr Menschen ich behandele, desto unwirtschaftlicher wird es.

Wenn Sie morgen eine gute Fee weckt und Sie ein paar Wünsche frei hätten. Was fiele Ihnen dann ein?

Dr. Lüder: Ich würde die Anzahl der Studienplätze für Medizin um 25 Prozent steigern und heimlich über eine Männerquote nachdenken.

Dann würde ich am Mittag die Krankenkassen verzaubern, die danach viel mehr Geld für die ambulante Versorgung bereitstellen würden.

Zum Nachmittag lasse ich den Gesundheitsminister sagen, dass eben nicht mehr alles, was wünschenswert wäre, auch zu leisten ist.